Ständige Erreichbarkeit ist Synonym für miserables Zeitmanagement

28/11/2021  
Hier publiziert Bestseller-autorin 
Anitra Eggler
Ich duze meine leser*INNEN seit 12/2021. Ältere texte und PressetextE sind per sie. 
ich gendere selten im text – Lesefluss sticht. meine zuneigung gilt allen menschen. hauptsache mensch – menschLICHKEIT sticht.

Braucht es vom Arbeitgeber festgesetzte Offline-Zeiten, so wie sie in Frankreich neu im Arbeitsgesetz gelten?
Leider ja. Eigentlich bin ich eine Freundin der Selbstbestimmung. Aber die Entgrenzung der Arbeit und der Freizeit bekommt den Menschen schlecht. Sind sie permanent auf Standby, erschöpfen sie. Darauf könnten sie eigentlich selbst kommen, aber sie gehen es nicht an. Da dieses Verhalten der Gesundheit schadet und die Produktivität verringert, beginnt sich nun auch die Politik einzuschalten. Klare Offline-Regeln in Unternehmen helfen Menschen, sich selbst zu schützen.

Warum schaffen es viele nicht, selbst ein gesundes Mass an Erreichbarkeit zu finden?
Zum einen, weil sie fürchten, sie könnten den Job verlieren oder ein anderer könnte sich hochmailen. Zum anderen, weil eingehende Mails und Nachrichten eigentliche Dealer sind. Unser Gehirn wird süchtig nach den Dopamin- und Adrenalin-Ausschüttungen, die einen Aufmerksamkeitsreiz begleiten. Wir gehen diesen Ablenkungen nach, weil wir einfach nicht imstande sind, das abzuschalten. Ploppt eine neue Nachricht auf, müssen wir sofort wissen: ist sie schön oder schrecklich?

Die wenigsten Mails und Nachrichten sind inhaltlich spektakulär.
Häufig sind sie äusserst banal, ja. Die Unternehmensberatung Bain hält die Hälfte der investierten Mailzeit für unnötig. 50 Prozent aller Mails sind reine Beschäftigungstherapien: Wegdelegieren von Verantwortung, Weiterreichen von Arbeit, Aktionismus. Am schlimmsten finde ich die CC-Mails, diese Absicherungsmentalität kostet unglaublich viel Zeit. Mich erinnern diejenigen, die das kultivieren, an die Petzer auf dem Pausenplatz.

Die Technologien, die uns schneller und flexibler machen sollten, scheinen das Gegenteil zu bewirken.
Die digitale Dauerablenkung zerstört unsere Konzentrationsfähigkeit. Wir verschwenden viel Zeit auf sozialen Netzwerken, vergoogeln uns ins Nirwana, beantworten jedes pseudowichtige Mail und jede Nachricht augenblicklich. Das führt zu einen beachtlichen Arbeitszeitverlust. Versuche ich ständig, alles gleichzeitig zu tun, mache ich nichts mehr richtig. Harvard-Ärzte nennen die Dauerablenkung ADT - Attention Deficit Trait (Aufmerksamkeitsdefizit-Merkmal. Kein Wunder, glauben die Leute, sie müssten abends und am Wochenende nacharbeiten. Ständige Erreichbarkeit ist für mich inzwischen ein Synonym für miserables Zeitmanagement.

Das Problem sind nicht die fordernden Arbeitgeber, sondern wir.
Für viele ist das Handy eine Beschäftigungstherapie. Gehen wir toll essen mit einem lieben Menschen, fotografieren wir das wunderbar präsentierte Gericht, posten es auf Facebook und schielen dann ständig aufs Handy, um die Likes zu sehen. Bleiben die aus, sind wir frustriert. Wir müssen wieder lernen, den Moment zu geniessen ohne ihn festzuhalten und zu teilen. Und das, was wir denken, erst mal in Ruhe für uns selbst denken und nicht sofort der Welt kundtun.

Sie waren IT-Unternehmerin, heute sind Sie «Digitaltherapeutin». Wie handhaben Sie das Handy?
Früher war ich rund um die Uhr erreichbar, ging mit dem Laptop ins Bett und trug das Handy wie ein Neugeborenes durch die Wohnung. Ich kenne Handy-Hysterie, Email-Wahnsinn, Sinnlos-Surf-Syndrom und Facebook-Inkontinenz aus erster Hand. Heute checke ich meine Mails konsequent nur noch einmal am Tag. Mein Handy ist meist lautlos eingestellt – lautlos heißt ohne Vibrationsalarm – und ich habe sämtliche Funktionen deaktiviert, die Auskunft darüber geben, wann ich zuletzt online war, wann ich eine Nachricht gelesen habe. So habe ich viel Lebenszeit gewonnen. //

/Dieses Interview erschien 2019 im migros Magazin 

© Anitra Eggler bis ans Ende aller Tage und Nächte.

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